Last updated on 4. Juni 2022

Ein persönlicher Erfahrungsbericht der Sängerin und Gesangspädagogin Hildegard Maria Ritter
Die Diskussionen rund um die Alltagsmaske verschärfen sich mit der Ausweitung der Maskenpflicht auf immer mehr Bereiche des täglichen Lebens. Was für die einen Schutz der Allgemeinheit ist, Selbstschutz, das Gefühl, aktiv etwas gegen die Angst vor dem Virus tun zu können, mit einem Wort Sicherheit – ist für die anderen ein Synonym für das Aufrechterhalten einer durch die Faktenlage scheinbar nicht gerechtfertigten Angst, Synonym für das Unmündigmachen, für das Absprechen eigenen Verantwortungsbewusstseins, für das Mundtotmachen, Einschränkung ihres Ausdrucks, ihres Lebendigseins, ihrer Lebensfreude, Schädigung ihrer physischen und psychischen Gesundheit. Vor allem das verpflichtende Maskentragen für Kinder wird auf beiden Seiten sehr emotional diskutiert. Beide Seiten können jeweils Aussagen von Experten verschiedener Fachgebiete und Studien präsentieren, die ihre jeweilige Sichtweise bestätigen.
Bisher hat keine der mir bekannten Studien und Berichte auf die subtilen, aber für mich gravierenden Auswirkungen des Tragens von Alltagsmasken auf unsere Selbstwahrnehmung und unsere Wahrnehmung der Umwelt aufmerksam gemacht. Meist ist von physischen Auswirkungen durch das Rückatmen von CO2, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen oder von Atemproblemen wegen Lungenerkrankungen, Asthma, etc. die Rede oder von psychischen Auswirkungen wegen Angstzuständen und Panikattacken. Oder es wird darauf aufmerksam gemacht, dass die nonverbale Kommunikation erschwert ist wegen der fehlenden Mimik unseres Gegenübers – oder auf die schlechte Verständlichkeit der Aussprache durch den Stoff vor dem Mund.
Aber es ist nie die Rede von der Beeinträchtigung der Selbstwahrnehmung, der Wahrnehmung des Raums um sich herum und der Beeinträchtigung des Hörens durch die eigene Maske (auch wenn das Gegenüber keine trägt). Diese Lücke möchte ich füllen, weil ich denke, dass es vielen Menschen mit der Maske auf eine diffuse Art und Weise schlecht geht, dass sie das Tragen anstrengt oder bedrückt, traurig oder aggressiv macht, belastet und anstrengt, dass sie aber vielleicht nicht genau sagen können, woran es liegt.
Als Sängerin habe ich eine sehr feine Selbstwahrnehmung, die Teil meiner Gesangstechnik und des sängerischen und schauspielerischen Ausdrucks ist. Als Gesangspädagogin habe ich eine ebenso feine Wahrnehmung meiner Schülerinnen und Schüler entwickelt, die sich ganz besonders auf eine freie Mimik, eine lebendige Motorik der Gesichts-Muskulatur rund um Stirne und Augen, um Lippen, Kinn, Nase und Wangen bezieht. Um beim Singen die Gesichtsmuskulatur lebendig und frei von unnötigen Spannungen zu halten, braucht es ein langes Training der Selbstwahrnehmung. Der Tastsinn des Gesichts muss sensibilisiert werden, teilweise auch, indem mit den Händen nachgespürt wird.
Eine interessante Studie zeigt, dass der Tastsinn des Gesichts eng mit dem der Finger verbunden ist. Diese beiden Bereiche liegen im Gehirn direkt nebeneinander. Das erklärt vermutlich auch, warum wir so oft unser eigenes Gesicht berühren. So stimulieren wir vermutlich immer wieder unseren Tastsinn und verbessern damit die Fähigkeit, unsere Umwelt tastend wahrzunehmen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Gehör. Ich habe schon lange festgestellt, dass ich nicht nur mit den Ohren höre, sondern, dass die Haut – gerade die Gesichtshaut und die darunter liegenden Knochen ein wichtiger Teil des Hörens sind. Die Schallwellen treffen ja nicht nur auf das Ohr, sondern auf schwingungsfähige Gewebe im ganzen Körper – und gerade auch im Gesicht. Auch zu diesem Phänomen habe ich zwei interessante Berichte gefunden. https://www.welt.de/wissenschaft/article5327238/Wir-hoeren-auch-mit-der-Haut.html
https://www.zeit.de/kultur/musik/2020-03/konzerte-streaming-live-unterschied-stimulation
Ein dritter Punkt, der ebenfalls durch das Singen und meine Bühnentätigkeit trainiert ist, ist die Wahrnehmung des Raumes um mich herum. Der Raum ist das Element, in dem ich mich ausbreiten kann, in dem meine Stimme schwingt, an den ich mich anlehnen kann, in den hinein ich mich öffne, um andere zu treffen oder einfach anwesend zu sein. Diesen Raum nehme ich einerseits mit den Augen wahr, aber eben auch sehr stark mit feinen Rezeptoren im Gesicht.
Natürlich kommen diese Aspekte nicht nur im Unterricht und auf der Bühne zum Tragen, sondern sind auch Teil meiner Selbstwahrnehmung im Alltag. Sie erlauben mir eine sehr intensive und vielschichtige Interaktion mit meiner Umwelt, die nun durch das Tragen einer Maske extrem eingeschränkt ist. Diese Einschränkung empfinde ich als starke Minderung meiner Lebensqualität. Daher kann ich alle Menschen verstehen, die eine Maskenpflicht kritisch sehen und sie – wie auch ich – von eindeutigen Beweisen der Notwendigkeit und Wirksamkeit abhängig machen möchten.
Wenn ich die Mimik meiner Mitmenschen nicht sehen kann, fühle ich mich von ihnen distanziert. Dieses Gefühl verstärkt sich, weil auch meine Mimik bei ihnen keine Reaktion auslöst. Zusätzlich ist der Kontakt meiner Haut mit Schall und Raum unterbrochen durch den Stoff. Mein Gesichtsfeld ist eingeschränkt, ich bewege mich unsicherer im Raum, ich höre schlechter, selbst wenn mein Gegenüber keine Maske trägt. Meine Stimme bleibt hinter der Maske stecken, anstatt sich Raum zu nehmen und den anderen mühelos zu erreichen. Ich muss mich anstrengen, um verstanden zu werden – und mich anstrengen, um den anderen zu verstehen. Dazu kommt noch, dass ich die feinen Temperaturunterschiede durch Luftzug, oder Unterschied zwischen Raum und Freiluft nicht spüre, sondern quasi gefangen bin in der immer gleich feuchtwarmen Temperatur meines eigenen Atems. Und mir fehlen die typischen Gerüche in den Geschäften und beim Friseur.
Die Welt bleibt vor der Maske draußen – und ich schrumpfe zu einem gesichtslosen Wesen mit gedämpfter Stimme. Das Leben mit Maske ist anstrengend, weil Augen und Ohren das kompensieren müssen, was wir normalerweise unbewusst über den Tastsinn unseres Gesichts oder mit unseren Augen im Gesicht des Gegenübers mühelos wahrnehmen können.
Diese Einschränkungen treffen in noch viel stärkerem Maße seh- und hörbehinderte Menschen, da sie auf den normalerweise frei verfügbaren Tastsinn des Gesichts verzichten müssen. Und ganz besonders fatal sind diese Einschränkungen für Kinder und Jugendliche, denn sie können unter diesen Umständen die Fähigkeit der Feinwahrnehmung ihrer selbst in Interaktion mit der Umwelt nicht frei entwickeln. Aber das ist ein anderes Thema, dem sich Psychologen und Kinderärzte widmen sollten. Interessant wäre auch eine Untersuchung, ob sich die Feinmotorik bei Kindern verschlechtert, wenn sie im Unterricht Masken tragen müssen.
Natürlich kann man jetzt einwenden, meine Empfindungen seien übertrieben und die von mir beschriebenen Einschränkungen müssten auf jeden Fall in Kauf genommen genommen werden, um eine schwere Erkrankung, die mit Folgeschäden einhergeht und im allerschlimmsten Fall den Tod bedeutet, zu verhindern. Dem würde ich ohne weiteres zustimmen, wenn erwiesen wäre, dass eine allgemeine Maskenpflicht im öffentlichen Raum (also auch in Schulen) diese Gefahr tatsächlich erheblich vermindern könnte.
Ich maße mir selbstverständlich nicht an, das beurteilen zu können, aber der Beitrag der erfahrenen Hygienikerin Prof. Dr. med. Ines Kappstein in der Zeitschrift „Krankenhaushygiene“ vom Juli 2020 (https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/a-1174-6591) in dem sie eine allgemeine Maskenpflicht kritisch betrachtet, hat mich angeregt, mich differenziert mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Mit meinem Beitrag hier möchte ich anregen, sich auch mit den Argumenten der Menschen zu beschäftigen, die unter der Maske – insbesondere unter einer allgemeinen Maskenpflicht im öffentlichen Raum – leiden und sie nicht einfach als nebensächlich oder ohne weiteres aushaltbar abzutun.
Beitragsbild: © Krakenimages.com / shutterstock
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