Reisenotizen aus Russland – Teil 3
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden.
Mark Twain
Es ist der 9. Mai, der «Tag des Sieges». Tom Wellbrock hat die Möglichkeit, die Parade direkt auf dem Roten Platz zu sehen. Wir beneiden Tom nicht, da er schon um 6:00 Uhr aufbrechen muss.

Mathias und ich dürfen in Ruhe frühstücken und verfolgen die Parade über einige Bildschirme, die im Hotel aufgestellt sind. Fast alle Mitarbeiter tragen ein orange und schwarz gestreiftes Georgsband an den Jackets – Es herrscht eine festliche Stimmung. Die Bilder von den unterschiedlichen Militärfahrzeugen und den marschierenden Soldaten auf dem Roten Platz, sind in der Tat beeindruckend und ich frage mich, was Tom wohl von seinen unmittelbaren Erlebnissen erzählen wird.

Andrej, unser Übersetzer lässt uns wissen, dass wir spontan auf das Dach unseres Hotels gehen dürfen, damit wir die Flugzeuge, die in den nächsten Minuten über Moskau fliegen werden um die Farben der russischen Flagge in den Himmel zu «malen», besser sehen können. So besteigen wir den Lift, der uns auf das Dach des World Trade Centers in Moskau bringt.
Es ist schon etwas skurril, als Mathias mich darum bittet, ein Foto von ihm vor dem Schriftzug des Moskauer World Trade Centers zu machen. Ist er doch einer der ausgewiesenen Experten für das nunmehr nicht mehr in der «ursprünglichen Form» existierende New Yorker Pendant. Seine Publikationen rund um den Themenkomplex 9/11 möchte ich dem verehrten Leser hier wärmstens ans Herz legen.
Nach der Fahrt in den 30. Stock, gelangen wir über verwinkelte Gänge und einige Treppenstufen, auf das Dach. Das Wetter klart in diesem Moment etwas auf und uns bietet sich ein beeindruckender Blick über die Stadt. Die Regenwolken hängen noch immer in den äußeren Stadtteilen, sodass die Flugzeuge nicht fliegen werden, teilt uns Sascha mit. Wir genießen noch kurz den Ausblick.
Von der Security begleitet, verlassen wir das Dach, um uns durch die langen Gänge wieder zur Hotellobby zurück zu begeben.



In der Hotellobby angekommen sammeln wir uns, um an dem Marsch des «unsterblichen Regiments» teilzunehmen. Über diesen wichtigsten Part des 9. Mai wird in unseren westlichen Medien kaum, bzw. überhaupt nicht berichtet. Einzig die Bilder vom Vormittag (die rollenden Militärfahrzeuge, marschierende Soldaten und kommentierte Ausschnitte der Rede des russischen Präsidenten) schaffen es bei uns in die Abendnachrichten.
Doch es gibt viel mehr zu berichten:
2011 unter anderem von dem Journalisten Sergej Lapenkow initiiert, gingen erstmals in Tomsk Menschen mit vergrößerten Bildern verstorbener Soldaten der Roten Armee bzw. Familienangehörigen durch die Straßen, um derer schweigend zu Gedenken. Im Jahr 2015 konnte die Bewegung bereits mehrere Millionen Menschen in Russland auf die Straße bringen. Diese, in der Zwischenzeit zum festen Bestandteil der russischen Gesellschaft gewachsene Bewegung, agiert unabhängig von staatlichem Einfluss. So gilt der Marsch des «Unsterblichen Regiments» ausschließlich dem persönlichen Gedenken. Politische Parolen, oder Schriftzüge sind unerwünscht.
Wir besteigen nun einen Minibus, der uns mit weiteren Personen zum Einstiegspunkt des Marschs bringen soll. Die Straßen sind mit roten Fahnen und Bildern gefüllt, die die Menschen, teilweise in Uniform gekleidet vor sich her tragen. Leider beginnt es wieder stark zu regnen, außerdem weht ein schneidender kalter Wind durch die Straßen.


Trotz des widrigen Wetters finden sich immer mehr Menschen zusammen. Nachdem wir die obligatorische Sicherheitsschleuse passiert haben, finden wir uns auf der «Twerskaya Straße» in einem Meer von Menschen wieder. Aus Boxen werden alte russiche Schlager gespielt und immer wieder stimmt die Menge URRRAAA, oder einfach RUU-SI-AAA Rufe an. Für mich geht von diesen Rufen eine unglaubliche Kraft aus. Generell ist es beeindruckend zu sehen, dass sich die Menschen aus unterschiedlichsten Schichten, Generationen, Religionen und Kulturen zu so einer homogenen Gruppe zusammenfinden. Ein Teilnehmer erklärt mir: «Es ist egal, wie du aussiehst, oder woher du kommst… Alle die hier ihrer Verwandten gedenken, sind ein Teil von uns, ein Teil Russlands…».


Eigentlich logisch –Bedenkt man, dass Russland als größtes Flächenland der Welt, unterschiedlichste Kulturen und Religionen miteinander vereint. Einmal wieder merke ich, dass mein Horizont durch das eigene Erleben drastisch erweitert wird. Natürlich waren mir diese Tatsachen im Vorhinein bewusst. Aber inmitten dieser vielen Menschen zu stehen, das Außen mit allen Sinnen wahrnehmen zu können, ist durch nichts zu ersetzen.
Die Stimmung ist entgegen des miserablen Wetters weiterhin unglaublich positiv. Mich fasziniert während das Laufens noch immer die Tatsache, dass sich hier Menschen zusammenfinden, die unabhängig von Religion, Abstammung, oder politischen Ansichten gemeinsam für das Gedenken ihrer Angehörigen auf die Straße gehen. Könnte es so eine Einigkeit auch in Deutschland geben?
Diese Verbundenheit der Menschen ist ehrlich. Mathias raunt mir während eines ruhigen Moments folgenden Satz zu: «Man spürt die Kraft der Gemeinschaft! Deshalb konnte bisher niemand Russland besiegen und es wird auch in Zukunft niemand schaffen…»
Meine direkten Begegnungen auf dem Marsch sind durchweg positiv. Viele der Teilnehmer erzählen mir die Geschichte der Verwandten auf Ihren Bildern und sind dankbar, dass es Leute aus dem «Westen» gibt, die diese Geschichten hören wollen.



Wir bewegen uns immer näher an den Roten Platz heran. Der Wind weht noch immer unerbittlich, doch die Stimmung bei den Teilnehmern ist ungetrübt. Am Beginn des Roten Platzes säumen Jugendliche die Ränder der Straße. Eng aneinandergereiht, stehen sie und rufen den Vorbeilaufenden zu. Sonya erklärt mir, dass es sich um Volontäre handelt, die sich ehrenamtlich um Veterane und Senioren kümmern.

Wir laufen nun mitten auf den Roten Platz, schaffen es an die Tribüne, wo vor einigen Stunden noch die politischen Hochkaräter saßen. Menschen winken, singen, oder lassen sich vor der imposanten Kulisse ablichten. Ein frohes und buntes Durcheinander. Es ist unglaublich, wieviele Menschen an dem Marsch teilnehmen. Es wird von bis zu 1.2 Millionen Teilnehmern gesprochen.



Hier nun ein kurzes Video mit ein paar kurzen Eindrücken, das ich aufnehmen konnte:
Am Ende des Roten Platzes zerstreut sich der Zug in alle Richtungen.
Wir entscheiden uns, mit dem Schiff zurück in Richtung Hotel zu fahren. Ich kann mich an den vielen Motiven nicht satt sehen. Es ist unglaublich, was wir hier erleben dürfen. In der Tat die Entdeckung einer neuen Welt.



Am Hotel angelangt, dürfen wir gegen 22:00h nochmals hoch hinaus. Es gibt ein Feuerwerk, das wir vom obersten Stock unseres Hotels aus ansehen können. Ich bin müde, aber sehr erfüllt von diesem besonderen Tag.


Bildnachweis: ©Thomas Stimmel
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