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Es regnet.

Last updated on 23. Januar 2022

Eindrücke aus dem Flutgebiet von Philine Conrad

Es regnet. “Bindfäden” – wie man sagt. Eine Redewendung. Ich kenne das aus England, Cornwall. 2007 lebe ich dort für 3 Monate in der Nähe von Bodmin. Bis auf drei Tage: Dauerregen. Aber das Wasser verteilt sich. Es kommt natürlich vom Himmel und läuft ab. Der 14. Juli 2021: Es regnet nicht, es schüttet. Seit Tagen. Ich will nicht raus ins Nass, bleibe lieber Zuhause, räume auf, schreibe, spiele Klavier. Aber Körper und Geist wünschen sich frische Luft. Also ziehe ich die gelben Gummisteifel an, werfe die gelbe Regenjacke über, dazu einen Regenschirm – zu viel Wasser kommt von oben. Auf der Straße peitscht der Wind den Regen gegen meine Beine. Die Jeans wird nass. Ich gehe zurück in die Wohnung und ziehe eine Regenhose an, streife sie über die Gummistiefel, dass kein Wasser in die Schuhe laufen kann. Ich bin gut eingepackt – geschützt. Der Park in der Kölner Südstadt beeindruckt. Die gesamte Fläche ist beinah zu einem See geworden. Überall tiefe Pfützen, die Wiesen bedeckt bis zu 20 cm mit Wasser, die Spazierpfade bieten nur in der Mitte noch einen trockenen Streifen. Die Gummistiefel versinken im Schlamm. Die Platanen verwandeln sich in Mangroven. Ich bin belustigt und heiter, springe durch die Pfützen, mache Fotos, schicke sie an Freundinnen. Es sind kaum Menschen unterwegs. Nur eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Das Mädchen liebt den Abenteuerspielplatz “Seenplatte”. Den Ernst der Lage begeife ich erst Tage später. Ich sehe die Bilder aus den überfluteten Gebieten, der Eifel, dem Ahrtal. Trümmerfelder.

Ich zögere nicht, halte mich bereit – und fahre ein paar Tage später mit zum Stiefvater einer Bekannten nach Bad Münstereifel. Sein Buchladen ist untergegangen. Dieses Mal ist das keine Redewendung. Bis 1,50 m stand das Wasser. Die untere Etage ist nicht zu retten. Der Buchladen zerstört. Und mit ihm alle Bücher.

© Philine Conrad

Mittwochmorgen. Spenden sind am Vortag eingetroffen: Gummistiefel, Handschuhe, Eimer und Handtücher. Sie werden im Kofferraum verstaut. Das Wetter ist traumhaft, die Anfahrt ruhig, idyllisch. Schöne Landschaften ziehen vorbei. Von Zerstörung ist nichts zu sehen. Die asphaltierte Straße schlängelt sich durch das Gelände. Grüne Wiesen. Blauer Himmel, Sonnenschein. Wir parken das Auto am Berg, unterhalb vom Wohnhaus des Stiefvaters. Auch hier ist nichts zu sehen. Der Stiefvater empfängt uns guter Stimmung auf seiner Terrasse, bittet uns ins Haus, macht einen Kaffee. Er scheint das Szenario gut anzunehmen. Dann beginnt er zu erzählen. Ich kenne die Berichte aus den Medien, aus den offiziellen, aus den alternativen. Ich habe eine Vorstellung, aber noch keine Erfahrung. 

Am Abend schließt er seinen Laden ab, gegen 18 Uhr. Es regnet ohne Pause. Langsam sammelt sich das Wasser auf der Straße vor dem Laden. Er verlässt das Geschäft und geht hoch zu seinem Wohnhaus. Noch ist das möglich. Ein Paar Stunden später denkt er, er muss nachsehen, was los ist. Der Regen pausiert nicht und er steigt nochmal runter. Als er in seinen Laden kommt, schwappt das Wasser schon gegen die erste Betonstufe, die in seinen Laden führt. Sie liegt etwa 3 Meter über dem normalen Wasserstand der Erft. Er bleibt im Laden, beobachtet weiter das Geschehen. Es muss schnell gegangen sein. In wenigen Minuten steigt das Wasser weiter an, die zweite Betonstufe wird überspült. Es gibt nur zwei. Dann läuft das Wasser in seinen Buchladen. Er versucht noch einige Gegenstände zu retten, ein Paar kleine Möbelstücke, bringt sie in den ersten Stock, rettet die Daten von seinem Server. Dann säuft alles ab. Er steht bis zur Brust im Wasser, schafft es noch in den ersten Stock. Dort angekommen kann er nirgendwo hin und legt sich auf die Couch. Draußen tobt der Strom, Gegestände schlagen an die Hauswände. Es muss irre laut sein. 

Es ist etwa 23 Uhr. Draußen ist es dunkel. Dann wird es auch im Laden finster. Der Strom fällt aus. Der Stiefvater meiner Bekannten kann nichts tun außer abwarten. Ab und an wirft er ein Buch die Treppe runter ins Dunkel, um zu hören wie hoch der Wasserstand ist. Er bereitet sich innerlich vor: “Wenn hier jetzt alles weggespült wird, das Haus, und ich darin, dann war es das.”

Er hatte noch Glück. Es hat ihn nicht so schwer getroffen wie andere. Es fallen mir Berichte ein von einer Mutter, die erzählt, dass sie mit ihrem Mann und den zwei Kindern, sieben und vierzehn Jahre alt, achtzehn Stunden lang auf dem Hausdach ausharren muss. In der Dunkelheit. Von neun Uhr abends bis fünfzehn Uhr am Nachmittag. Die ganze Nacht das donnernde Rauschen und Grollen des reißenden Flusses unter ihnen, Autos, die an Hauswände anschlagen, Treibgut, das sich durch die Gassen schiebt, an Hausfassaden reibt. Geräusche, die man nicht zuordnen kann in der Finsternis. Das Wasser steht bis 1,50m im ersten Stock. Es bleibt der Familie nur die Flucht auf das Dach. Am nächsten Tag erfahren sie das Ausmaß: Der Schaden ist nicht versichert, und das Haus noch nicht abbezahlt.

Der Stiefvater erzählt weiter. Bekannte von ihm müssen den Großvater, der bettlägerig ist, im Erdgeschoss zurücklassen. Sie versuchen noch, ihn in den ersten Stock zu bringen, bevor das Wasser kommt. Sie können ihn nicht heben, bekommen ihn nicht bewegt. Er hat keine Chance. Mein Herz wird eng, der Hals schnürt sich zu. Der Stiefvater erzählt eine weitere Geschichte von einer anderen Familie: Die Eltern setzen ihre Kinder ins Auto. Sie rennen noch einmal ins Haus, um etwas zu holen, das sie vergessen haben. Als sie zurückkommen auf die Straße ist das Auto weg. Weggespült von den Fluten. Mir schießen Tränen in die Augen. Unser Gastgeber schaut mich an und schweigt für einen Moment. Zum erstern Mal seit unserer Ankunft gibt es einen Moment der Stille. Es scheint, erst jetzt begreift er selbst den Schrecken und das Ausmaß der Fluten. Nicht allein durch seine Erzählungen, vielmehr durch unsere Reaktionen, unsere Betroffenheit.

Trotz allem wirkt er gefasst, scheint einen positiven Umgang mit der Situation zu suchen: Er sieht das als Chance, sagt er, und weiß noch nicht, ob er wieder einen Buchladen aufmachen will. Gleichzeitig spricht er von Krieg, von Trümmern, von Schock und Zerstörung, von der überwältigenden Zahl an Helfern, von Mitgefühl und Zusammenhalt. Wir trinken den Kaffee aus und brechen auf in Richtung Krisengebiet.

Ich möchte an dieser Stelle anmerken, es schreibt hier eine einzelne junge Helferin, die nur einen Ort von vielen besucht hat, die nur mit einer handvoll Menschen gesprochen hat, die das Hochwasser erlebt haben, die mit Soldaten gesprochen hat, die halfen, mit Betroffenen aus umliegenden Regionen. Es ist nur eine Erzählung, eine Erfahrung von vielen. Die Bertroffenheit ist überall zu spüren. Die Erfahrung, die jeder einzelne aus dem Erleben mitnimmt, ist – und kann – nur subjektiv sein.

© Philine Conrad

Ich habe den Eindruck, die Zeit steht still in der kleinen Stadt. Man kommt von außen in eine fremde Welt, in der jetzt eigene Gesetze herrschen. Es gibt auch Momente der Freude, später, als eine Freundin des Stiefvaters eine batteriebetriebene Lautsprecherbox bringt und Musik spielt, und wir zwischen den Trümmerhaufen am Rande des Flusses tanzen und mitsingen, und die Eimer, mit den wir vorher die Keller geleert und Schutt weggetragen haben, als Trommeln benutzen. 

Es ist ein Sznario, in dem Zeit und Verstand keinen Platz haben. Alles ist im Fluss. Jeder in der Stadt ist involviert, jeder hat eine Aufgabe, jeder ist betroffen, oder beauftragt, jeder ist erfüllt von Zusammenhalt, Fürsorge und Miteinander. Jeder Handgriff, jeder Schritt, jede Geste, jede Antwort, jede Frage, jeder Befehl, jedes Ausführen eines Auftrags ist eine Selbstverständlichkeit. Alles, was man tut, alles, was man macht, anfasst, wegräumt, jeder Stein, jedes Hölzchen, hat Bedeutung. Alles ist wichtig. Und alles Unwichtige egal. Die Stimmung ist speziell. Und beeindruckend.

Nachhaltig und sicher für lange Zeit wird mich das Bild begleiten, das sich uns bietet, als wir in die “Zone” kommen, wo die Zerstörung sichtbar und ihr Ausmaß eindeutig spürbar werden. Wir steigen die Treppen hinab von der alten Stadtmauer. Eine breite Straße liegt vor uns, die runter zum Wasser führt. Sie ist mit Schlamm und Sand bedeckt. Etwa 50-60 Soldaten stehen auf der Straße, erwarten ihren Befehl. Es liegt keine Bedrohung in der Luft, vielmehr eine Spannung: Die Bereitschaft, zu helfen. Das Bild aber, mit dem wir empfangen werden, gleicht einer Filmkulisse. Ein Paar Tage zuvor war ich noch an so einem Ort – eine ZDF-Dokumentation wird gedreht und eine Szene aus der Vergangenheit eines Reserve-Polizei-Bataillons aus den 1940er Jahren nachgestellt. Ich spiele die Ehefrau eines Soldaten, die zu Besuch kommt an die Front und ihren Mann besucht in deren “Flitterwochen”. Sie hatten drei Wochen zuvor geheiratet. Eine heitere Szene. Und die Männer am Set, kostümiert in Uniformen.

Als ich in Bad Münstereifel auf die breite, sandige Straße trete, habe ich den Eindruck an demselben Filmset zu sein: Menschen wuseln herum, organisieren, tragen Materialien, Schaufeln, Eimer, Gummistiefel zur Sammelstelle am Rathaus, warten auf ihren Einsatz, plaudern, erteilen Befehle, halten Listen in der Hand – dazwischen überall uniformierte Soldaten. Die Athmosphäre ist ebenso surreal, wirkt künstlich, inszeniert. Diese Szenerie aber ist real. Und die einzige Wahl, die wir haben, und der Grund, warum wir gekommen sind: Eintauchen in diese Welt. Mitmachen, helfen, anpacken, da wo Hilfe benötigt wird, ist die einzige Möglichkeit. Involviert sein ist der einzige Weg, sich sinnvoll zu beteiligen und nicht nachzudenken über die Betroffenen, die einzelnen Schicksale und das Ausmaß der Zerstörung.

Am Nachmittag fordern uns die Soldaten auf, unsere Arbeit in dem kleinen Buchladen an der Ecke einzustellen. Wir sind dabei, Schutt wegzuräumen, die feuchten Lehmwände bis auf das Grundgerüst des alten Fachwerks abzutragen, teilweise Wände einzureißen. Aber unter uns im Keller arbeiten die Kammeraden und die Statik des Hauses ist noch nicht sicher geprüft. Wir stellen unsere Arbeit ein und unterstützen die Soldaten dabei, eine Menschenkette zu bilden und Eimer voller Schlamm, Schutt und Schmutzwasser aus dem Keller im Nachbarhaus, einem Wirtshaus, nach draußen zu reichen und auf die Schutthaufen auf der Straße bzw. in den Fluss zu entleeren. Der junge Soldat neben mir erzählt, er und seine Kollegen standen bereits am ersten Tag nach der Flut parat, waren bereit für ihren Einsatz – doch niemand gab den Befehl. Es herrschte eine zu große Angst davor, einen Fehler zu machen, dass die verantworlichen Behörden und Politiker den Helfern keine Freigabe erteilten. Bundeswehrsoldaten, die geschult sind für Hochwasser und Krisensituationen, trainiert und vorbereitet darauf, Leichen zu bergen. Sie durften nicht ausrücken und die Anwoher mussten selbst ihre Nachbarn aus dem Wasser und Schlamm ziehen. 

Eine Anwohnerin erzäht, das Rückhaltebecken einige Kilometer flussaufwärts war vollgelaufen. Aus Angst, dass es brechen könnte, wurde entschieden, das Wasser abzulassen. Aber es wurde niemand informiert. Es reiht sich ein Schreckensszenario an das nächste, wenn die Anwohner und Betroffenen erzählen. 

Aber es ist kein Platz für Schuldzuweisungen. Es ist keine Zeit für Anklagen. Es müssen jetzt alle Zusammenhalten. Eine Einheit bilden. Und es funktioniert. Man denkt nicht an Fehlentscheidungen und unterlassene Hilfeleistung. Man denkt nicht an Wahlkampf und gut gespielte Mienen. Man denkt nicht an die mediale Abwertung anderer Helfer und die Unterstellung opportunistischer Interessen. Nein, man ist involviert. Man ist eine Gemeinschaft. Ein eigener Kosmos, in dem jeder Schritt, jeder Handgriff, jedes Wort des Trostes, jedes Lächeln, jede Form der Unterstützung eine Selbstverständlichkeit ist.

Anmerkung der Autorin: Diese Notizen sind eine Aufzeichung aus der Erinnerung. Es wurde nichts während der Ereignisse notiert, sondern der Text im Nachhinein, Tage später niedergeschrieben. Es mag sein, dass sich das eine oder andere Detail früher oder später in der Chronologie oder ein wenig anders ereignet hat.

Anm. d. Red. Es können Spenden an Flutopfer über Philine Conrad weitergegeben werden.

paypal: philine.conrad@hotmail.com

www.philineconrad.com

Beitragsbild © Josef Mütters

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